"Chance, die üblichen gedanklichen Bahnen einmal verlassen und neu denken"

Andreas W. Lüdtke ist seit September 2019 Inhaber der Projektstelle "Kirchenkreis 2030". Im Gespräch mit der Öffentlichkeitsarbeit erzählt der Theologe und angehende Gemeindeberater, was ihn an diesem Job reizt, welche Erfahrungen er aus dem Gemeindepfarramt mitbringt und welche Schritte die Kirchspiele im Zuge des Prozesses angehen sollten.

Was sind Ihre Aufgaben als Inhaber der Projektstelle Kirchenkreis 2030?
Ich begleite diejenigen, die mit dem Prozess „2030“ zu tun haben. Das sind vor allem die Pastorinnen und Pastoren unseres Kirchenkreises mit ihren Kirchengemeinderäten und den haupt- und ehrenamtlich Tätigen. Das Diakonische Werk und das Bildungsmerk haben ebenfalls mit diesem Prozess zu tun. Und natürlich die Steuerungsgruppe und beide Pröpste. Und wahrscheinlich habe ich jetzt noch jemanden vergessen – denn zu tun mit „2030“ haben doch eigentlich alle. Meine Aufgaben ist oft, zu moderieren. Zu beraten. Und in der Steuerungsgruppe Protokoll zu führen.

Was hat Sie nach vielen Jahren als Gemeindepastor in Schönberg an diesem Job gereizt?
Im Mai 2017 habe ich die Zusatzausbildung zum Gemeindeberater und Organisationsentwickler begonnen. Das macht mir viel Freude. Immer wieder neuen Menschen zu begegnen, mit ihnen zu arbeiten und zu erleben, wie groß ihr Potential ist. Dabei zu sein, wenn eine Gruppe zu Ergebnissen kommt, von denen sie vorher gar nicht wussten, dass es diese Lösungen geben würde. Das ist einfach großartig!

Was nehmen Sie mit vom Pastorenberuf?
Auf jeden Fall das Wissen, welche Herausforderungen der Gemeindealltag so bietet. Wenn Pastor*innen mir erzählen, was ihre tägliche Arbeit ist, dann weiß ich, wo-von sie reden. Ich habe in den letzten 25 Jahren Gemeindearbeit an unterschiedli-chen Orten kennengelernt – in einem sozialen Brennpunkt in Lübeck, in einer Kieler Innenstadtgemeinden, in Kiel-Elmschenhagen und zuletzt in Schönberg.
Anfangs gab es – zumindest in meiner Erinnerung – noch Zeiten im Kirchenjahr, die ruhiger waren als andere. Die sind irgendwie nicht mehr da, scheint mir. Und dieses Verschwinden der ruhigeren Monate – das betrifft ja auch alle anderen, die Di-akone und Kirchenmusikerinnen, die Sekretärinnen und Küster, die Mitarbeitenden in der KiTa und auf dem Friedhof. Alles wird schneller und mehr.

Und jetzt kommt der Prozess "Kirchenkreis 2030" noch obendrauf.
Ja, das stimmt. Es ist ja nicht so, dass sich die Haupt- und Ehrenamtlichen vorher gelangweilt hätten und jetzt froh sind, sich im Kirchspiel austoben zu können. Es ist Arbeit. Der Prozess stellt uns vor große Aufgaben. Neben all dem anderen, was die Menschen sonst noch zu tun haben. Ich hoffe auf eine gute Arbeitsteilung in den Gemeinden vor Ort, damit es nicht zu Überlastungen kommt. Und gleichzeitig müssen diejenigen, die nicht an allen Treffen und Planungen teilnehmen, gut informiert sein.

Im Laufe des Prozesses wird es sicher auch Enttäuschungen geben, oder?
Mit Sicherheit wird es auch dazu kommen. Dass alle Beteiligten ihre Wunschvorstellungen zu 100 Prozent umsetzen können, bezweifele ich. Ich möchte mithelfen, uns nicht vorschnell auf lauwarme Kompromisse zu einigen, sondern tragfähige Lösungen mit hohem Konsens zu erarbeiten. Da bin ich als Berater gefordert.

Was ist wichtig bei systemischer Beratung?
Zunächst einmal: Sie geschieht ergebnisoffen. Ich bin nicht eingestellt worden, damit zum Beispiel am Ende alle Gemeinden miteinander fusionieren. Vielleicht ist in dem einen oder anderen Fall eine Fusion tatsächlich die beste Lösung. Vielleicht ist aber auch eine Kooperation am besten geeignet und umsetzbar. Oder ein Verband. Oder ein Pfarrsprengel. Oder etwas, was es heute noch gar nicht gibt – aber in drei Jahren. Genau das meine ich mit ergebnisoffen.

Und weiter?
„Systemisch“ bedeutet, dass das Potential für die Lösung einer herausfordernden Aufgabe im System liegt. Ein Beispiel: Die Lenkungsgruppe eines Kirchspiels lädt mich ein, um sich darüber zu verständigen, für welches Pastorat im Jahr 2030 welche Verwendung sinnvoll sein kann. Ich habe darauf keine Antwort. Kann ich ja auch gar nicht. Ich kenne die Gemeinde nicht so gut wie die Kirchengemeinderäte. Ich kenne die Verkehrsanbindungen nicht, weiß nicht um geschichtliche und soziale Bezüge. Die Liste dessen, was ich alles nicht weiß, ist richtig lang. Ist aber überhaupt nicht schlimm. Denn das System – in meinem Beispiel die Menschen, die in der Lenkungsgruppe arbeiten – die wissen das alles. Die können – und werden – mit dem, was ich an Methoden und Interventionen anbieten kann – zu einer Lösung gelangen.

Und warum ist diese in so einem Prozess wichtig?
Die systemische Art von Beratung verspricht eine viel höhere Halbewertzeit, weil sie von den Menschen vor Ort selbst erarbeitet worden ist. Es ist deren Idee – darum werden sie auch die Energie haben, an der Umsetzung zu arbeiten und eventuelle Rückschläge zu verkraften und Durststrecken zu überstehen.
Stellen Sie sich vor, ich würde als Berater kluge Ratschläge verteilen. Oder schematisierte Lösungsmodelle anpreisen und verkaufen. Was würde passieren? Ich wäre noch nicht ganz zur Tür raus, da würde das System – die Menschen, die ich beraten habe – sich gegenseitig angucken, den Kopf schütteln und sagen: „Der hat ja keine Ahnung! Was der uns da vorgeschlagen hat, klappt bei uns nie!“ Nee, die systemische Beratung ist für mich die einzige Beratungsform, die in diesem Prozess, den wir vor uns haben, zu Ergebnissen führen wird.

Für wen sind Sie in Ihrer Funktion ansprechbar?
Im Prinzip für Alle. Damit es aber möglichst wenig Reibungsverluste gibt, ist es sinnvoll, wenn Menschen aus einer Kirchengemeinde sich zunächst an ihre Gemeindepastorin bzw. Pastor wenden, wenn sie was zum Thema ‚Kirchspielprozess' wissen wollen. Denn die Verantwortlichen vor Ort können noch einmal ganz anders und konkreter auf die Kirchengemeinde bezogen antworten, als ich es kann. Neben meiner Ansprechbarkeit für die Kirchengemeinderäte kann ich mir gut vorstellen, auch zu Gemeindeversammlungen eingeladen zu werden. Dort könnte ich dann etwas zum übergeordneten Prozessgeschehen erläutern und mit Gemeindegliedern ins Gespräch kommen.

Woher schöpfen Sie die Motivation für die Aufgabe?
Kurz gesagt: Ich darf bei Erfolgen dabei sein und kann dazu beitragen. Das ist toll, ich sehe viele Entwicklungen und Schritte nach vorne. Zum anderen bin ich von der Wichtigkeit und Dringlichkeit von ‚Kirche 2030' überzeugt. Wir müssen uns jetzt damit beschäftigen, was 2030 voraussichtlich Realität sein wird. Es ist entscheidend, jetzt aktiv mit Zeit und Luft vorzubereiten und zu planen. Mit der Chance, Schwerpunkte zu setzen. Und das Ganze am liebsten durchaus auch spielerisch, experimentell. Die üblichen gedanklichen Bahnen einmal verlassen und neu denken. Dazu habe ich richtig Lust.

Das Gespräch führte Sebastian von Gehren